"Vernünftige" Religionen
Als solche bieten sich gemäßigte Religionen an, die bereit sind die Regeln eines liberalen Verfassungsstaates zu respektieren und nach innen und außen tolerant zu sein. Dies bedeutet, dass sie ihre Glaubenssätze weder gegenüber ihren Anhängern noch gegenüber Anhängern anderer Weltanschauungen militant durchsetzen wollen. Jürgen Habermas bezeichnet solche Religionen als "vernünftige" und begrüßt es auch, wenn sich diese Bekenntnisse am gesellschaftlichen Diskurs beteiligen und ihre jeweiligen ethisch-gesellschaftlichen Standpunkte einbringen.
Die Akzeptanz "vernünftiger" Religionen durch den demokratischen Verfassungsstaat hat allerdings die strikte Trennung von Religion bzw. Kirchen und dem Staat zur Voraussetzung.
Zu weiteren Details und Literaturangaben siehe:
- Habermas: Glauben und Wissen
Hinsichtlich der fanatischen Ausprägungen des Islam im "Islamischen Staat" und weiteren Terrorgruppen wie den Al-Shabab-Milizen (streben einen Gottesstaat am Horn von Afrika an), Boko Haram in Westafrika, die Taliban in Afghanistan und Pakistan beklagt der Palästinenser Ahmad Mansour die Nähe der radikalen Ansichten der Terrorgruppen zum Islamverständnis der gemäßigten Islamgläubigen. Letztere sind natürlich keine Terroristen, aber ihre teilweise konservative Interpretation des Koran wird von den Radikalen als Grundlage für ihre Menschen verachtenden Thesen betrachtet. Mansour mahnt deshalb dringend eine Modernisierung des Islam an, dessen Thesen noch aus seiner Gründungszeit im 7. Jahrhundert stammen.
Den Artikel von Ahmad Mansour aus dem Spiegel Nr. 37/2014 finden Sie:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-129095221.html
Eine ganz ähnliche Stellungnahme erschien bereits im Nachrichtenmagazin Time von 25. Juli 2005. Darin forderte der Islamwissenschaftler Irshad Manji die Muslime auf, angesichts der Terrorbomben vom 07. Juli 2005 in London endlich zuzugeben, dass ihre Religion Terroristen motivieren kann.
- Irshad Manji: "When Denial Can Kill"
Diese Diskussion hat durch die Terroranschläge auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt Anfang 2015 in Paris erneut an Aktualität gewonnen. Mitte Januar 2015 forderten die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und der Bundestagspräsident Lammert die muslimische Geistlichkeit dazu auf, dringend die Frage zu klären, warum im Namen des Islam immer wieder Menschen verachtende Gewalttaten und Terroranschläge (zuletzt am 13. November 2015 in Paris) verübt werden.
http://www.n-tv.de/politik/Ich-bin-auch-nicht-mit-dem-Koran-aufgewachsen-article14326696.html
Im Spiegel Nr.4/2015 vom 17.01.15 meldet sich Ahmad Mansour aus aktuellem Anlass wieder zu Wort. Unter dem Titel "Jetzt mal unter uns" schreibt er auf S.132: "Langfristig kann die Lösung - ein reformierter, demokratie-kompatibler Islam - nur gesamtgesellschaftlich und global sein. Länder, die den traditionellen, autoritätsfixierten Islam unterstützen, etwa Saudi-Arabien oder Iran, ziehen gerade die nächste patriachalische Generation heran und erhalten die Basis für den Islamismus. Im Westen müsste der Mut wachsen, weitaus deutlicher als bisher auch mit diesen Partnern über Menschenrechte zu sprechen."
An Aufforderungen an den Islam, sich endlich zu reformieren, mangelt es wahrlich nicht. Die aktuellste Veröffentlichung stammt von der Islamkritikerin Ayaan Hirsi Ali und trägt den Namen "Reformiert euch! Warum der Islam sich ändern muss". Darin führt sie fünf Konzepte des Islam an, die unbedingt geändert werden müssten, da sie mit der Moderne unvereinbar sind:
Zitiert nach einem Spiegel-Artikel von Georg Diez: "Botschaft vom Scheiterhaufen", Der Spiegel 13/2015, S 128ff.
Agnostizismus/Atheismus in toleranter Ausprägung
Als weltanschauliche Variante zu den Religionen zählt auch die Ablehnung des Theismus (Atheismus) bzw. die Annahme, dass die Existenz eines höheren Wesens extrem unwahrscheinlich ist (Agnostizismus). Religionen sollten auch diese Weltanschauungen respektieren wie auch umgekehrt die Agnostiker/Atheisten die Menschen mit religiösen Überzeugungen. Im Hinblick auf den Staat gilt natürlich auch für die nicht-religiösen Bürger die Pflicht seine Regeln zu beachten.
Ein häufiger Einwand gegenüber nicht-religiösen Weltanschauungen ist die Befürchtung, dass bei diesen die ethischen Standards sinken würden. Die Einhaltung nationaler und internationaler Normen wird durch nationale Gesetze und internationale Abkommen vorgeschrieben. Die Einhaltung ethischer Normen ist außerdem ein Gebot der Vernunft, die die Notwendigkeit der Befolgung von Grundregeln für das Gelingen des Zusammenlebens erkennt. In diesem Zusammenhang sind auch die von der UNO unterstützten Menschenrechte als internationaler moralischer Grundkonsens von Bedeutung.
Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte
Diese auch als UN-Menschenrechtscharta bekannte Erklärung wurde am 10. Dezember 1948 von der UNO-Vollversammlung in Paris genehmigt und verkündet (Resolution 217 A/III). Sie besteht aus 30 Artikeln und erklärt bereits in Artikel 1::„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“
Die Artikel enthalten grundlegende Ansichten über die Rechte, die jedem Menschen zustehen, „ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand“ (Artikel 2).
Zum Wortlaut der Erklärung:
http://de.wikisource.org/wiki/Allgemeine_Erkl%C3%A4rung_der_Menschenrechte
Die Geltung dieser Erklärung ist aber unter zwei bedeutsamen Einschränkungen zu sehen: Erstens handelt es sich nicht um verbindliches Völkerrecht, außer nationale Gesetzgebungen berufen sich auf diese Rechte. Eine weitere Ausnahme stellen diejenigen Bestimmungen dar, die in zwei anderen Verträgen mit internationaler Verbindlichkeit enthalten sind:
"Über Bürgerliche und Politische Rechte" („Zivilpakt“, BPR) sowie "Über Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte" („Sozialpakt“, WSKR), beide 1966 geschlossen und 1976 in Kraft getreten.
Zweitens beschloss die Organisation der islamischen Konferenz 1990 in der "Kairoer Erklärung der Menschenrechte" eine von der UNO-Resolution abweichende Deklaration, in der z.B. keine Gleichberechtigung von Männern und Frauen und kein Recht auf freie Wahl der Religion oder des Ehepartners enthalten ist. Außerdem stellt sie alle in der UNO-Resolution dargestellten Rechte unter den Vorbehalt der islamischen Scharia.
Im Jahre 2004 wurde allerdings von der Arabischen Liga eine "Arabische Charta der Menschenrechte" beschlossen, die inhaltlich näher an der UNO-Resolution liegt.
Diese Beispiele zeigen, dass es unmöglich ist eine Menschenrechtscharta zu erstellen, die allen religiösen und sonstigen Traditionen Rechnung tragen kann. Es sollte aber möglich sein, sich auf einen ethischen Grundkonsens zu einigen, der aber dann auch rechtlich verbindlich sein muss. Dies bedeutet, dass Abweichungen mit Sanktionen belegt werden können. Auch wenn dieser Status eines Tages erreicht werden sollte, wird es immer wieder diktatorische Regime geben, die sich - wie heute auch - aus machtpolitischen und/oder ideologischen Gründen nicht an solche Normen halten. Dies wirft die weitere Frage auf, was die internationale Gemeinschaft in diesen Fällen tun will bzw. kann.
Wie schwer sich demokratisch verfasste Staaten gegenüber diktatorisch geführten durchsetzen können erläutert ein Spiegel-Essay vom 22. April 2014 von Dirk Kubjuweit vor dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Konflikte:
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-126589967.html